Hintergrund: Venöse Thromboembolie bei Krebs
Manche Tumoren bilden gerinnungsaktivierende Faktoren, die eine Entstehung von Gerinnseln in Blutgefäßen begünstigen. Auch der Tumor selbst kann akut eine Thrombose auslösen, etwa durch lokalen Druck oder Einwachsen in Gefäße. Darüber hinaus erhöhen Krebsbehandlungen und patientenbedingte Faktoren das Risiko für venöse Thromboembolien.
Unter dem Begriff venöse Thromboembolien (VTE) werden tiefe Venenthrombosen und Lungenembolien zusammengefasst. Im Vergleich zu Patientinnen und Patienten ohne Krebserkrankung haben Krebsbetroffene ein 4- bis 7-fach höheres Risiko für VTE. Geschätzt entwickeln sich bei etwa 20 Prozent aller Krebspatienten Thrombosen2.
Wichtig zu wissen: Die meisten venösen Thromboembolien treten innerhalb der ersten 6 Monate nach der Krebsdiagnose auf.
Venöse Thromboembolie: Risikofaktoren
Die Ursachen für thromboembolische Ereignisse können sehr verschieden sein. Folgende Risikofaktoren (Auswahl) erhöhen das Thrombose-Risiko bei an Krebs Erkrankten3,4:
- Art und Stadium der Krebserkrankung: Krebs der Bauchspeicheldrüse, Lunge, Niere, des Eierstocks, Hodens, Gehirns und Magens; ferner bei Lymphomen und Tumoren im fortgeschrittenen Stadium (metastasiert)
- Art und Intensität der Krebsbehandlung: Operation, Bestrahlung, Chemotherapie, Immuntherapie, antihormonelle Therapie, zentraler Venenzugang und Transfusionen
- patientenbezogene Faktoren: reduzierte Mobilität, venöse Thromboembolien in der Vorgeschichte, Infektionen und höheres Alter
Anhand von standardisierten Erfassungs- und Bewertungsbögen (Risiko-Score) kann die individuelle Wahrscheinlichkeit für eine venöse Thromboembolie (VTE) ermittelt werden. Außerdem spielt die ärztliche Erfahrung eine Rolle.
Zur Diagnostik bei Verdacht auf eine VTE lesen Sie weiter in der aktuellen Leitlinie1. Wichtig ist, bei Tumorpatienten jeden Verdacht auf eine VTE zeitnah so weit abzuklären, dass eine individuelle therapeutische Entscheidung getroffen werden kann. Die Krankheitssituation des Patienten oder der Patientin ist dabei angemessen zu berücksichtigen.
Venöse Thromboembolie: Antikoagulation
Die S2k-Leitlinie geht in ihrem Unterkapitel "Antikoagulanzientherapie bei Malignom-assoziierter VTE" gesondert auf die verschiedenen Phasen der Behandlung ein:
- initiale Therapie (meist 1 bis 3 Wochen),
- Erhaltungstherapie (für 3 bis 6 Monate),
- danach gegebenenfalls Sekundärprophylaxe, um die Wahrscheinlichkeit für eine erneute VTE zu mindern. Sie kann auch langfristig fortgeführt werden – abhängig von Nutzen, Risiken und Wunsch der Patientin oder des Patienten. Empfohlen wird eine regelmäßige Neubewertung der individuellen Gesamtsituation.
Bei Krebspatienten werden in erster Linie Antikoagulanzien wie Faktor-Xa-Inhibitoren eingesetzt. Es stehen mehrere Medikamente zur Verfügung:
- indirekte Faktor-Xa-Inhibitoren: niedermolekulares Heparin (NMH), Fondaparinux und unfraktioniertes Heparin (UFH). Sie werden subkutan beziehungsweise intravenös verabreicht, also parenteral.
- direkte Faktor-Xa-Inhibitoren: Abkürzung DXI, dazu gehören Apixaban, Rivaroxaban und Edoxaban. Zusammen mit dem direkten Thrombin-Inhibitor Dabigatran werden diese Substanzen auch als direkte orale Antikoagulanzien (DOAK) bezeichnet.
Zum möglichen Wechsel von NMH auf DXI oder umgekehrt sowie zur Frage, wie lange die Antikoagulation im Einzelfall fortzusetzen ist, finden Sie Hinweise in der neuen Leitlinie. Erwähnenswert ist außerdem der neue Therapiealgorithmus (Abb. 6.3) auf S. 141, der Ihnen helfen kann, zwischen oraler und parenteraler Antikoagulanzientherapie abzuwägen.
Fazit für die Praxis
Primärprophylaxe: Beispiel Hodenkrebs
Aufgrund des erhöhten VTE-Risikos bei Männern mit Hodenkrebs unter Cisplatin-Therapie empfiehlt die deutsche S3-Leitlinie eine Thrombose-Prophylaxe3. Die Leitlinie der Europäischen Gesellschaft für Urologie (EAU) rät zudem – wenn möglich – von zentralen Venenkathetern während der Erstlinien-Chemotherapie ab5.
Tendenziell wird die Zahl der Krebs-assoziierten venösen Thromboembolien (VTE) künftig zunehmen, da moderne onkologische Therapien das Leben krebskranker Menschen verlängern.
Mittlerweile haben sich die Optionen zur Antikoagulation erweitert: Neben den Heparinen können auch orale Medikamente zur Behandlung und Sekundärprophylaxe der VTE infrage kommen. Bei der Auswahl einer geeigneten Therapie kann Sie die evidenzbasierte S2k-Leitlinie unterstützen. Für die individuelle Therapieentscheidung ist es zudem wichtig, folgende Aspekte zu berücksichtigen:
- Sicherheit (abhängig vom individuellen Blutungsrisiko und von substanzspezifischen Kontraindikationen)
- Resorption bei oraler Therapie und mögliche Wechselwirkungen mit der Antitumortherapie
- Patientenwunsch und Compliance (orale versus parenterale Medikation)
Das könnte Sie auch interessieren: Die S2k-Leitlinie geht nicht auf die Primärprophylaxe ein. Welche Maßnahmen zu empfehlen sind, um einer ersten VTE bei Krebs vorzubeugen, finden Sie in der Leitlinie der Internationalen Initiative für Thrombose und Krebs (ITAC)2.
Letztere informiert auch über die VTE-Therapie bei Tumorpatienten mit COVID-19-Erkrankung: Kurzgefasst, das Vorgehen unterscheidet sich nicht – ob mit oder ohne Corona-Infektion.
Zum Weiterlesen: Verwendete Quellen und vertiefende Informationen
Leitlinien
1 Linnemann B, Blank W, Doenst T, Erbel C, Isfort P, Janssens U, Kalka C, Klamroth R, Kotzerke J, Ley S et al. Diagnostik und Therapie der tiefen Venenthrombose und Lungenembolie – AWMF-S2k-Leitlinie (Stand: 02/2023, abgerufen am: 20.04.2023).
2 Farge D, Frere C, Connors JM, Khorana AA, Kakkar A, Ay C, Muñoz A, Brenner B, Prata PH, Brilhante D et al. 2022 international clinical practice guidelines for the treatment and prophylaxis of venous thromboembolism in patients with cancer, including patients with COVID-19. Lancet Oncol. 2022. Jul;23(7):e334-e347. doi: 10.1016/S1470-2045(22)00160-7.
3 Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF): S3-Leitlinie Hodentumoren, Langversion 1.1, 2020, AWMF-Registernummer: 043/049OL (abgerufen am: 20.04.2023).
4 Onkopedia Leitlinie. Thromboembolien bei Tumorpatienten (früher: Venöse Thromboembolien (VTE) bei Tumorpatienten). Riess H, Angelillo-Scherrer A, Alt-Epping B, Langer F, Wörmann B, Pabinger-Fasching I (Stand 11/2020, abgerufen am: 20.04.2023).
5 Nicol D, Berney D, Boormans JL, di Nardo D, Fankhauser CD, Fischer S, Gremmels H, Heidenreich A, Leão R, Nicolai N et al. EAU Guidelines on Testicular Cancer (Stand 03/2023, abgerufen am: 20.04.2023).
Key NS, Khorana AA, Kuderer NM, Bohlke K, Lee AYY, Arcelus JI, Wong SL, Balaban EP, Flowers CR, Gates LE et al. Venous Thromboembolism Prophylaxis and Treatment in Patients With Cancer: ASCO Guideline Update. J Clin Oncol. 2023 Apr 19:JCO2300294. doi: 10.1200/JCO.23.00294.
Weitere Übersichtsarbeiten und Fachveröffentlichungen
Falanga A, Ay C, Di Nisio M, Gerotziafas G, Jara-Palomares L, Langer F, Lecumberri R, Mandala M, Maraveyas A, Pabinger I et al. ESMO Guidelines Committee. Venous thromboembolism in cancer patients: ESMO Clinical Practice Guideline. Ann Oncol. 2023 Jan 10:S0923-7534(22)04786-X. doi: 10.1016/j.annonc.2022.12.014.
Moik F, Posch F, Zielinski C, Pabinger I, Ay C. Direct oral anticoagulants compared to low-molecular-weight heparin for the treatment of cancer-associated thrombosis: Updated systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. Res Pract Thromb Haemost. 2020 May 21;4(4):550-561. doi: 10.1002/rth2.12359.