Psychologisches "Wachstum" nach Lebenskrisen
Doch so einschneidend und belastend eine Krebserkrankung auch ist: Ein solch kritisches Lebensereignis kann auch positive Anstöße für die persönliche Weiterentwicklung mit sich bringen. Experten sprechen dabei auch von "posttraumatischem Wachstum" oder "posttraumatischer Reifung". Die Erfahrung einer lebensbedrohlichen Erkrankung oder eines anderen schwerwiegenden Ereignisses kann zu psychologischen Veränderungen führen, die Betroffene im Nachhinein als positiv oder bereichernd erleben. Dazu gehören beispielsweise veränderte Sichtweisen auf das Leben oder eine veränderte Wahrnehmung der eigenen Person.
Befragung: Welche positiven Aspekte sehen Langzeitüberlebende in ihrer Erkrankung?
Drei Gruppen von Krebsüberlebenden, bei denen die Erstdiagnose 2, 5 und 10 Jahre zurücklag, wurden in einer umfangreichen Studie der American Cancer Society untersucht. Teilnehmer waren Betroffene mit unterschiedlichen Krebserkrankungen, die im Rahmen der Studie zu verschiedenen Aspekten der Lebensqualität schriftlich befragt wurden.
"Please tell us about any positive aspects of having cancer" lautete dabei eine der Fragen an die Studienteilnehmer, die mit einem freien Statement beantwortet werden konnte.
Das Ergebnis: 56,2 % der 9.170 Befragten benannten tatsächlich eine oder mehrere positive Erfahrungen, die anschließend verschiedenen Themenbereichen zugeordnet wurden. Zu den Themengebieten mit den häufigsten Nennungen zählten dabei die folgenden:
- Dankbarkeit im Hinblick auf den Krankheitsverlauf und die Behandlungsmöglichkeiten
- eine größere Wertschätzung für verschiedene Aspekte des Lebens
- mehr Sinn für Spiritualität
- die Stärkung und "Neusortierung" von Beziehungen und Freundschaften
- positive Erfahrungen im Rahmen der medizinischen Betreuung, d.h. im Kontakt mit Ärzten, Pflegepersonal und weiteren Helfern
- eine veränderte Prioritätensetzung im Leben
Auswirkungen auf das psychische Befinden
Doch was bedeutet es, wenn Menschen mit einem kritischen Lebensereignis auch wertvolle Erfahrungen verbinden? Ist derjenige, der für sich positive Aspekte oder eine persönliche Weiterentwicklung wahrnimmt, automatisch in einer besseren psychischen Gesamtverfassung? Die Antwort nach derzeitigem Wissensstand lautet: Nicht zwangsläufig. Studien erbrachten diesbezüglich uneinheitliche Ergebnisse, auch abhängig davon, welche Zielvariablen psychischer Gesundheit gemessen wurden.
Individuelle Faktoren spielen eine Rolle
Von Bedeutung könnten hier – neben anderen Faktoren – individuelle Bewältigungsstile sein. Denkbar ist beispielsweise, dass die Strategie, ausschließlich positive Aspekte zu fokussieren und dabei negative oder bedrohliche Gedanken und Gefühle auszublenden, langfristig eher ungünstige Auswirkungen auf das psychische Befinden hat. Wenn es dagegen gelingt, bei der Verarbeitung eines kritischen Ereignisses unterschiedlichen Erfahrungen und Gefühlen Raum zu geben und gleichzeitig die positiven Erkenntnisse aktiv zu nutzen, trägt dies möglicherweise nachhaltiger zu einem besseren Befinden bei – so eine Theorie aus dem Bereich der Traumaforschung.
Über positive Aspekte sprechen?
Was bedeutet das für den Umgang mit Krebsbetroffenen, beispielsweise in der ärztlichen Praxis? Eine generelle Empfehlung dafür, die Beschäftigung mit "dem Guten im Schlechten" gezielt zu forcieren oder gar von Betroffenen einzufordern, gibt es nicht. Hinzu kommt: Patienten, die von ihrer Umgebung unvermittelt dazu aufgefordert werden, "auch mal über die positiven Aspekte ihrer Erkrankung nachzudenken", könnten dies leicht als Missachtung dessen erleben, was sie durch die Krankheit an Leid erfahren haben.
Belastungen würdigen
Wenn die Frage nach etwaigen positiven Erfahrungen oder Anstößen gestellt wird, sollte sie daher eher zurückhaltend formuliert werden und immer verknüpft sein mit einer Würdigung der Belastungen und Herausforderungen, die eine Krebserkrankung mit sich bringt.
Berichte über positive Aspekte aufgreifen
Ein Gesprächseinstieg kann sich vor allem dann bieten, wenn Betroffene von sich aus über entsprechende Erfahrungen berichten. Manche Patienten wünschen sich auch Unterstützung bei der Umsetzung von Veränderungen, die durch die Erkrankung angestoßen wurden – beispielsweise im Hinblick auf die Prioritätensetzung im Leben.
Auf Unterstützungsmöglichkeiten hinweisen
Wird dergleichen im Kontakt mit dem behandelnden Arzt oder im Rahmen der sonstigen medizinischen Betreuung angesprochen, kann es unter Umständen sinnvoll sein, auf die Möglichkeit einer psychoonkologischen Beratung hinzuweisen.
Zum Weiterlesen: Verwendete Quellen und vertiefende Informationen
Adorno G, Lopez E, Burg MA, Loerzel V, Killian M, Dailey AB, Iennaco JD, Wallace C, Sharma DKB, Stein K et al. Positive aspects of having had cancer: A mixed-methods analysis of responses from the American Cancer Society Study of Cancer Survivors-II (SCS-II). Psycho-Oncology. 2017 Jun 21. doi: 10.1002/pon.4484. [Epub ahead of print]
Weitere Übersichtsarbeiten und Fachveröffentlichungen
Casellas-Grau A, Ochoa C, Ruini C. Psychological and clinical correlates of posttraumatic growth in cancer: A systematic and critical review. Psycho-Oncology. 2017 Mar 20. doi: 10.1002/pon.4426. [Epub ahead of print]
Jim HSL, Jacobsen PB. Posttraumatic stress and posttraumatic growth in cancer survivorship: A review. Cancer J. 2008 Nov-Dec; 14(6): 414-419. doi: 10.1097/PPO.0b013e31818d8963.
Mehnert A, Härter M, Koch U. Langzeitfolgen einer Krebserkrankung. Anforderungen an die Nachsorge und Rehabilitation. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 2012 Apr; 55: 509-515. doi: 10.1007/s00103-012-1447-x.
Weis J, Faller H. Psychosoziale Folgen bei Langzeitüberlebenden einer Krebserkrankung. Bundesgesundheitsblatt-Gesundheitsforschung-Gesundheitsschutz 2012 Apr; 4: 501-508. doi: 10.1007/s00103-012-1458-7.
Weis J. Psychosoziale Folgen einer Krebserkrankung. Im Focus Onkologie 2014 Dec; 17(12): 42-45. doi: 10.1007/s15015-014-1507-1.
Schilling G, Stein A, Bokemeyer C. Survivorship-Programme – Ziele und Inhalte einer strukturierten Betreuung. Forum 2014; 29:202-205. doi: 10.1007/s12312-014-1111-5.
Smith T, Stein KD, Mehta CC, Kaw C, Kepner JL, Buskirk T, Stafford J, Baker F. The rationale, design and implementation of the American Cancer Society's studies of cancer survivors. Cancer 2007; 109(1): 1-12. doi: 10.1002/cncr.22387.
Stanton, AL. Positive consequences of the experience of cancer. In: Holland JC, Breitbart WS, Butow PN, Jacobsen PB, Loscalzo MJ, McCorkle R, editors. Psycho-Oncology. Third Edition. Oxford University Press; 2015. p. 630-634.
Tomich PL, Helgeson VS. Is finding something good in the bad always good? Benefit finding among women with breast cancer. Health Psychology 2004; 23(1): 16-23. doi: 10.1037/0278-6133.23.1.16.
Zoellner A, Maercker A. Posttraumatic growth in clinical psychology – a critical review and introduction of a two component model. Clin Psychol Rev. 2006 Sep; 26(5):626-53. doi: 10.1016/j.cpr.2006.01.008.
Veröffentlichungen von Institutionen
Robert Koch-Institut (Hrsg.): Bericht zum Krebsgeschehen in Deutschland 2016: www.krebsdaten.de/Krebs/DE/Content/Publikationen/Krebsgeschehen/Krebsgeschehen_node.html.
Informationen für Ihre Patienten
Adressen von psychosozialen Krebsberatungsstellen und niedergelassenen Psychoonkologen finden sich auf den Internetseiten des Krebsinformationsdienstes.
Kurzgefasste Informationen zu psychoonkologischen Unterstützungsmöglichkeiten bietet das Informationsblatt des Krebsinformationsdienstes "Psychoonkologische Hilfen: Anlaufstellen für Krebspatienten" (PDF).